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Der Fall "Estonia"

 

Der Originalfall    Der Fallverlauf nach Stiftungskonzept    

 

Der Originalfall:

 

Die Fähre Estonia verließ den Hafen Tallin am 27.9.1994 gegen 19,15 Uhr mit 15 Minuten Verspätung. Es herrschte Starkwind (aus Nordost?) und Seegang bis 5 Meter, Wassertemperatur 13 ° Celsius, jahreszeitlich typisches rauhes Wetter. Kurz nach Mitternacht entdeckte die Brückenwache auf dem Kontrollmonitor einen ersten Wassereintritt durch das Bugtor ins Autodeck. Zunächst ging man von Spritzwasser/Regen und Gischt aus und stellte die Bilgepumpen an. Schon bald ließ sich der Wassereinbruch nicht mehr beherrschen, die Fähre bekam  Schlagseite. Überlebende berichten, dass zudem Wasser von unten  in die Decks 0 (Tankdecke, Maschinenräume) und 1 (Maschinenräume, Stores, Mannschaftsquartiere)  etc.) einbrach, was Fragen aufgeworfen hat und sich anscheinend nicht einfach durch Bilgeüberlauf oder Überflutungen durch die Wagendeckentwässerung in die Bilge von vorn erklärt, sondern auf tieferliegende Schäden als die Wassereinbruchquelle Bugklappe/Autodeck schließen lässt, zumal das Autodeck über den Decks 0 und 1 liegt. Später sank das Schiff über das Heck anstatt wie naheliegend und zu erwarten gewesen wäre über den Bug. Hieraus resultieren Bombenanschlagstheorien, die bisher nicht wirklich aufgeklärt sind. Es gibt Indizien und begründete Argumente dafür wie dagegen. Die Lenzpumpen konnten den Wassereinbruch nicht mehr halten.

Um 1,22 Uhr wurde Mayday gefunkt auf der gemeldeten Position 59° 23´Nord – 21° 42`Ost, ca. 35 Seemeilen südwestlich der finnischen Insel Utö.  Wenige Minuten nach dem ersten Notruf brach der Funkkontakt ab. Um 1,55 Uhr verschwand der Radarkontakt der Estonia von den Bildschirmen.  Der Notruf wurde von verschiedenen Schiffen aufgenommen, darunter den Fähren Mariella, (Viking-Line), Silja Europa und Silja Symphonie (Silja-Line), die sofort die Position der Estonia anliefen. Die Mariella traf zuerst ca. 1 Stunde nach dem Untergang ein, die beiden Fähren der Silja-Line trafen kurze Zeit später ein. Die Bergung der Opfer gestaltete sich wetterbedingt als sehr schwierig und langwierig,  da es sehr schwierig war, die Boote zu Wasser zu bekommen und die Menschen aus der See zu bergen und an Bord zu nehmen. Es wurden gerettet: 139 Personen. 93 Tote wurden geborgen. Ca. 819 Personen sind vermisst. Die genaue Zahl der Passagiere ist unbekannt, da keine Passagierliste vorliegt und die an Bord befindlichen Personen nicht namentlich aufgelistet sind.  Erst nach den Unfall wurde die Aufzeichnungspflicht eingeführt. Die meisten Passagiere lagen noch im Schlaf und wurden in ihren Kabinen überrascht.

 

 

Fallverlauf nach Stiftungskonzept:

 Vorgabe: Alle Schiffe sind im Notfall angewiesen, bereits bei Beginn einer schwierigen Lage eine PAN-Meldung an die Leitstellen der Stiftung zu geben und Beratung zu erbeten, diese ist kostenfrei.

 

Zum Einsatz kommende Mittel:

  

1 S.A.R. - Rettungsschiff der "Angel"-Klasse,

  

2 Hubschrauber AgustaWestland EH 101 - S.A.R. PetArt FS (Foundation Special)

 

27.09.1994:

Das Rettungsschiff "Angel 3" liegt in Tallin auf Station in wettergemäßer Sofortbereitschaft. Das besagt: Die Besatzung ist vollzählig an Bord, es besteht Landgangssperre. Die volle Seewache ist in Bereitschaft aufgezogen, die Brücke ist voll besetzt, diensthabender Wachleiter ist gerade der Zweite Offizier. Die Gasturbinen sind in Anlassbereitschaft, die Leinen liegen auf Slip und werden von Bord aus losgeworfen. Die Kabelverbindungen zum Land (Strom, Telefon etc.) sind abgeschlagen.  Die Hubschrauber stehen vollbetankt startbereit und mit dem Bear-Trap-System seefest gezurrt auf dem Landedeck. Das Schiff braucht nicht auszuklarieren, es meldet sich lediglich bei der Hafenbehörde ab, nach Verlassen des Hafens ist der bestehende Zollverschluß aufgehoben.

 

28.09.1994:

Kurz nach Mitternacht entdeckt die Brückenwache der "Estonia" auf dem Kontrollmonitor einen ersten Wassereintritt durch das Bugtor ins Autodeck. Zunächst geht man von Spritzwasser/Regen und Gischt aus und stellte die Bilgepumpen an. Mehr erfolgt zunächst nicht. Als die Brückenwache der Estonia um 0, 35 Uhr feststellt, dass sich der Wassereinbruch deutlich verstärkt und nicht nur von Spritzwasser herrühren kann, gibt sie eine PAN-Meldung an die Seefunkstelle ab, die durch die automatische Funkwache auf der "Angel 3" mitgehört und protokolliert wird. Sofort wird der Kapitän geweckt, der zwei Minuten nach dem Weckruf auf der Brücke erscheint. Der Kapitän nimmt Kontakt zur "Estonia" auf und lässt sich die Schiffsdaten und Viodeobilder  per SATCOM   (Neues Ergänzungssystem zu SARSAT = CODAT / COSPAS / EPIRB) überspielen, nach 5 Minuten hat er den ersten Lagebericht auf seinem Monitor. Die sofort angestellte überschlägige Stabilitätsberechnung für die "Estonia" bekundet den drohenden Ernst der Lage, der auf der "Estonia" noch nicht voll realisiert wird. Der Kapitän  nimmt dazu die Pläne und Daten  der  der "Estonia" zu Hilfe, die in der Einsatz-Schiffsbibliothek der "Angel 3" gesammelt sind wie die Generaldaten aller erreichbaren Seeschiffe weltweit. Das Ergebnis gibt Anlass zu ernstester Sorge. Der Kapitän der "Angel 3" übernimmt deswegen sofort das Kommando als C.o.S. (Commander on Scene) und meldet das der Hafenbehörde und der nationalen Seenotleitstelle sowie der "Estonia". Er lässt als erstes einen Hubschrauber starten, der auf 500 Meter steigt und Radaraufklärung fliegt, mit einer Radarreichweite von 250 Sm., um die Positionsmeldung der Estonia zu überprüfen, was nach kurzer Zeit gelingt. Trotz GPS kann man keiner Positionsangabe trauen, wenn man sie nicht selbst überprüft hat. Zugleich werden für solche Einsatzfälle abgeordnete Hilfskräfte vom örtlichen Krankenhaus alarmiert, da mit tiefgekühlten und verletzen Menschen in einer Zahl um 1.000 zu rechnen ist. Das Personal aus dem Vertragskrankenhaus, ein Ärzte- und Schwesternteam von 20 Personen trifft binnen 10 Minuten am Schiff ein und geht an Bord. Sofort danach läuft die "Angel 3" als Vorrangschiff unter blauem Funkelfeuer aus und geht auf Seeposition.

Es ist kurz nach 1,00 Uhr, als die "Angel 3" die Hafenfeuer Tallin auslaufend passiert, damit formell den Hafenbereich Tallin verlässt und sofort auf die wettermögliche Höchstfahrt geht, alle Kraftwerke sind in Betrieb. Es wird so schnell gefahren wie es die Seegangslage immer hergibt. Die Estonia steht ca. 90 Sm. ab, also bei Höchstfahrt minimal 1 ½ Stunden Fahrzeit. Vor dem Auslaufen  ist auch der zweite Hubschrauber gestartet, beide fliegen nun die "Estonia" an, die sie in 20 Minuten Flugzeit erreichen werden. Da der Seegang bis 5 Meter und mehr beträgt, fährt die Besatzung angeschnallt auf den gefederten Spezialsitzen. Der Innenbetrieb ist weitestgehend eingestellt. Mahlzeiten hat die Bordküche für solche Fälle immer vorbereitet. Dank "seefesten" speziellen Mikrowellengeräten an allen wesentlichen Manöverstationen braucht man auch in solcher Lage auf warmes Essen nicht verzichten. In der Kühllast sind immer solche "Notrationen" von der Kombüse für den Einsatz vorbereitet und rechtzeitig vor Einsatzbeginn an die Stationen, den deren Kühlschränke verteilt, damit die Besatzung versorgt ist, wenn wegen Extremfahrt der reguläre Kombüsenbetrieb geschlossen wird. In der Zwischenzeit hat der Kapitän die "Estonia" angewiesen, die Passagiere beschleunigt zu wecken und auf die Bootsstationen zu bringen sowie die Rettungsmittel klarzumachen. Ferner solle sie versuchen, wenn Wind und See es zulassen wie die Lage des Schiffs, mit dem Heck vor die See zu gehen und den Bug zu entlasten. Das wird von der  "Estonia" als zu gefährlich abgelehnt. Sie geht mit der Fahrt herunter und lenzt nun vor der See mit Minimalgeschwindigkeit zum Erhalt der Steuerlast.

Die Angel hat über Rundruf ihr Auslaufen gemeldet. Bei der "Angel 3" melden sich inzwischen die Fären "Mariella", "Silja Europa", "Silja Symphonie" und weitere an, die den Positionsabruf der Angel erhalten haben, die drei nächststehenden Genannten  werden vom C.o.S. zur "Estonia" beordert. Der Kapitän bespricht mit ihnen, welche Rettungsmittel sie beisteuern können, was sich nach der Konstruktion der Schiffe und der Seegangslage als äußerst problematisch erweist. Die am nächsten stehende "Mariella" wird angewiesen, sich darauf vorzubereiten, von Hubschraubern abzusetzende Personen aufzunehmen. Auf der "Angel 3" wird inzwischen der Einsatz besprochen. Da klar ist, dass die Leute in schwerer See ins winterlich kalte Wasser müssen, werden alle Tenderboote, MOB´s und Speed-RIBS zum Einsatz kommen. Für das Luftkissenboot ist der Seegang zu hoch. Wenn die Rettungsinseln der "Estonia" nicht ausreichen, kommt das eigene Rettungsinsel-System zum Einsatz, das in den Hubschraubern mitfliegt und später von den Booten geschleppt wird. Die MOB´s fahren dann Stand-by und fischen einzelne Schwimmer auf. Die Hubschrauber sind mit der Ausrüstung für Notärzte und ausgebildeten Rettungssanitätern/einem Notarzt besetzt. Es fliegen heute 6 Mann, 2 Piloten, 1 Arzt, 2 Rettungsmänner und ein Taucher, der mit ins Wasser geht zur Hilfestellung für die zu Rettenden. Es werden die großen Rettungskörbe aufgeklappt und an die Winde angehakt, mit denen jeweils 5 Personen in einem Zug aufgewinscht werden können. Ersatzweise kann der Windendraht auch in den Lasthaken am Boden eingehängt werden und trägt dann erheblich mehr. Da die Einsatzpläne für solche Fälle klar und vielfach geübt sind, genügen wenige Befehle über Interkom, um die Besatzung zu instruieren, jeder Mann an Bord und in den Hubschraubern weiß genau, was er zu tun hat.

Um 1,10 Uhr meldet die "Estoina", das sich die Lage dramatisch verschlechtert und die Schlagseite zunimmt, die geweckten Passagiere sollen auf die hohe Seite gebracht werden, was einige Zeit dauern und schwierig werden wird, da das Schiff bereits 25 ° Schlagseite habe. Der C.o.S befiehlt für die "Estonia" alle Mann an Deck und ordnet an, mit der Räumung zu beginnen und die Rettungsmittel zu Wasser zu bringen. Er bleibt nun mit dem Kapitän der "Estonia" in fortlaufendem Funksprechkontakt und wird fortlaufend unterrichtet.

Um 1,20 Uhr erscheinen die Hubschrauber über der "Estonia", die nun mit 30 ° Schlagseite quer in der See treibt und stark rollt. Sie leuchten mit den Scheinwerfern und überspielen ihr Videodaten direkt auf die Brücke der "Angel 3". Da die Lage sehr kritisch geworden ist und die "Estonia" jede Sekunde kentern kann, befieht der C.o.S den Hubschraubern, sofort anzufliegen und soviele Leute aufzuwischen wie möglich, und diese nicht zur bisher noch näher stehenden "Mariella" zu fliegen, sondern direkt in die Rettungsinseln zunächst abzusetzen. Der Estoina wird befohlen, sofort sämtliche Rettungsinseln zu Wasser zu bringen und die Rettungsboote auszuhaken, damit sie beim Sinken der Fähre aufschwimmen, da sie wegen der Schlagseite nicht mehr ausgesetzt werden können. Die Evakuierung hat begonnen. Die "Angel 3" ist noch 70 Sm. entfernt und wird um ca. 2,30 Uhr eintreffen. Die "Mariella" wird um ca. 3,00 Uhr erwartet.

Um 1,30 Uhr vergrößert sich die Schlagseite auf 45 °, die Maschinen bleiben gemäß Notabschaltung stehen, schon vorher ist  der Backborddiesel wegen Überflutung des Maschinenraums auf Deck 0 ausgefallen, als Ursache des Querschlagens vor die See.  Wegen Flugwassereinbruch startet auch der Notdiesel auf dem Brückendeck nicht mehr, und nach 5 Minuten fällt wegen Wassereinbruchs ins Ruderhaus auch die gesamte Brückenelektronik aus. Das Schiff ist damit tot bis auf die batteriegetriebene Notbeleuchtung. Der Funkverkehr ist damit endgültig ausgefallen. Allerdings wird er durch Handfunkgeräte der Steuerleute der "Estonia" wieder aufgenommen, wobei die Hubschrauber als Relaissationen arbeiten und die Meldungen an die "Angel 3" weiterleiten. Hubschrauber 1 koordiniert die Einsatzleitung und den Funkverkehr, während er die Rettungseinsätze fliegt, als Koordinationsaufgabeaufgabe des Co-Piloten, während der Pilot fliegt. Das ist nur möglich, weil die Avionik der Hubschrauber mit einem Joystick arbeitet mit computerkontrollierter Fluglage.  Neu ist, dass die Hubschrauber damit auch einen Autopiloten haben. Die Matrix des Autopiloten unterstützt den Piloten auch zur Vermeidung von gefährlichen Fluglagen im Grenzbereich und kontert Windböen sensorgesteuert aus.  Aufgrund der bedrohlichen Lage wird entschieden, dass die Hubschrauber die Leute von Deck aus abbergen, was rascher geht, da mehr helfende Hände dort verfügbar sind zum schnelleren Einsteigen, und die Leute in die nächstliegenden Rettungsinseln fliegen, da sich als am Lasthaken einklinkbare Außenlast nun deutlich mehr als 5 Personen aufnehmen und fliegen lassen. So werden nun binnen 3 Minuten jeweils 10 Personen je Hubschrauber abgeborgen und abgesetzt im rollenden Verkehr trotz Wind und See, während andere über die Bordwand in die Inseln rutschen, wobei etliche durch die hochlaufende See weggewaschen werden und in der See verschwinden. Diese müssen später gesucht werden. Da noch Nacht herrscht fliegen die Piloten diese Einsätze nur im Schein der Schiffsnotbeleuchtung und leuchten nicht mit den eigenen Scheinwerfern, sondern bedienen sich der Helm- Nachtsichtgeräte und FLIR-Anlage, also der Infrarot- und Wärmebild-Videoanlage, deren Bilder simultan auf die Brücke der "Angel 3" übertragen werden, wo der Flugleitoffizier die Hubschrauber koordiniert.  Das irritiert die Leute und Schiffsführung auf der "Estonia" zunächst, aber die Scheinwerfer würden im Flugwasser und Gischt die Piloten blenden, dazu die Nachtsichtanlagen überstrahlen und deren Bilder unbrauchbar machen. Die Kommandos geben die Hubschrauber mit den Aussenlautsprechern an.

Um 1,45 rollt die "Estonia" 90 ° auf die Seite und beginnt, langsam über das Heck zu sinken. In wilder Panik stürzen sich die Menschen nun vorwiegend über die Bordwand ins Wasser. Die Hubschrauber müssen deswegen die Rettung abbrechen, hovern über dem Schiff und leuchten nun mit den Scheinwerfern. Sie können im Moment nur hilflos zusehen. Um 1,50 Uhr verlöscht die Notbeleuchtung, die Menschen haben nur das Licht der Hubschrauber, was wesentlich hilft, halbwegs geordnet über die Bordwand zu kommen. Das Heck taucht unter. Das Schiff richtet sich etwas auf und geht dann mit zunehmender Geschwindigkeit auf Tiefe. Die Hubschrauber dokumentieren dabei per Video das Fehlen des Bugvisiers und die aufgeschlagene Bugklappe. Um 1,55 ist das Schiff verschwunden, etliche Schwimmer geraten in dessen Sog. Sofort nach dem Sinken nehmen die Hubschrauber ihre Tätigkeit wieder auf und rollen die Menschen knapp über dem Wasser in Mengen an den Körben hängend, was diese tragen können zur nächsten Rettungsinsel. Die eigenen mitgeführten Inseln für jeweils 100 Personen, jeder hat 5 davon an Bord, werden jetzt durch die Hecktüren abgeworfen. Sie wurden speziell für diesen Einsatz eingeladen und mitgenommen. Es handelt sich um "Marin-Ark"-Systeme, also doppelseitig gebaute Inseln, die in jeder Lage benutzbar sind, falls eine Insel in der See und beim Einsteigen kentert. Sie muss nicht wieder aufgerichtet werden.

Die Rettungskörbe bestehen aus einem luftgefüllten begehbaren Schwimmring mit verstärktem Netzboden, Halteketten für einen oberen Tragring zum Anschlagen an das Lastgeschirr und die Winde und einer Kletternetzwand sowie einem Bodengewicht, so dass das Gerät auch ins Wasser eintauchen kann, man hält sich schwimmend am Netz fest und wird angehoben. Da die Netze trapezförmig schräg stehen fällt man automatisch ins Netz und auf den Ring, nicht nach außen. Da das Gewicht durch ein aufblasbares Kissen nach Bedarf neutralisierbar ist, kann das Netz über das Wasser rollen wie ein Schlauchboot, wenn es – nicht zu schnell - gezogen wird. Der Taucher sorgt für das „richtige Rollen“ und lenkt den Hubschrauber. Da der Rollweg nur jeweils wenige Meter zur nächsten Insel beträgt kann ein erheblicher Teil insbesondere der dicht beieinander Schwimmenden schnell  in die – vor allem abgeworfenen – Inseln gebracht werden trotz der hochlaufenden See. Die hohe Geschwindigkeit, mit der dieser Teil der Aktion abläuft, ist wesentlich, da die Überlebenszeit derzeit bei 13 °  im Wasser maximal 2 Stunden beträgt zu Kältestarren weit früher.

Die "Angel 3" steht um 1,55 Uhr noch 35 Sm. weit ab. Die "Mariella", die in dieser See mit 20 Knoten läuft und sehr schwer arbeitet, noch etwa 40 Sm. "Die Angel 3" fährt in einer sie beständig einhüllenden Gischtfahne über und durch die Seen und Brecher und nimmt dabei harte Stöße und Schläge hin, die nicht Angeschnallte von den Füßen reißen. Gischtwolken donnern regelmäßig bis über das Peildeck. In dieser Wasserwolke ist das Schiff meist gar nicht zu sehen. Die nichtaktive Besatzung liegt in den Sicherheitssesseln, in denen man auch gut schlafen kann, in der Messe und sieht fern  – via Wandbildschirm, Individualmonitoring und Kopfhörer -, oder döst und schläft vor sich hin, soweit das bei dem Gerucke möglich ist. Man kann sich auch auf die bordeigene Navigations-Videoanlage schalten und zusehen, was draußen los ist.  Besonders imposant sind die restlichtverstärkbaren Mastkameras, die über den Gischt blicken. Da es draußen dunkel ist sieht man jedoch trotzdem außer anrollenden Seen nicht viel. Ab und zu kommen Durchsagen von der Brücke, die den aktuellen Stand mitteilt. Dort hat man das Seegangs-Dopplerradar zugeschaltet und fährt mit dem Autopilot, der schneller und präziser als der Seemann mit der eigenen Stabilitäts- und Trimmrechnung im Kontext auf anrollende außerplanmäßige Brecher reagiert. Dennoch erspüren alle auf der Brücke mit den Füssen und dem Hintern, wie sich das Schiff verhält, und können zu jeder Sekunde eingreifen, falls es nötig werden sollte. Erst bei der Ankunft wird der Kapitän auf manuelle Joysticksteuerung umschalten. Der Wachhabende sitzt dann am Joystick im Steuersitz, während der Kapitän an das Einsatzpult des C.o.S. wechselt. Da alle Steuerleute bis zum Dritten das Kapitänspatent und praktische Erfahrung in der Schiffsführung haben müssen, macht das keinen Unterschied, zumal auch im Simulator ständig geübt wird, das Schiff in jeder Lage sicher zu beherrschen. Die Fahrt ist also insoweit Routine.

Das blaue Funkelfeuer ist nun abschaltet, es wird nur bei Revierfahrt auf Sicht benutzt. Die Gischt leuchtet rot und grün auf, wenn sie an den Positionslampen vorbeidrischt. Statt des Blaulichts arbeitet ein neuartiges mit dem AIS-System verbundenes Ortungssystem, dass sich auch in die Radar-Frequenzen einloggt, wenn es solche auffängt,  und das Ziel per Farbmarkierung und Blinksignal auf fremden Radarschirmen als absolutes Vorrangschiff mit Höchstgeschwindigkeiten zu einer Abstandspflicht von 5 Seemeilen projeziert, markiert und plottet. Die Unterschreitung des Abstandes löst einen Auto-Alarm aus, der eine deutliche Ausweichpflicht von mind. 15 ° zur ausweichpflichtigen Seite ankündigt, die zwingend nach der Seestraßenordnungsnovellierung befolgt werden muss.  Das war auf einem nach Tallin einlaufenden Tanker noch nicht geläufig, so dass er in nahem Passierabstand von 3 Meilen wie einen plötzlich auftauchenden Spuk eine durch die Dunkelheit erkennbar rasant schnelle große helle Gischtwolke vorbeirauschen sah, die ihn über Funk anrief und zurecht wies. Die Angel fuhr einen Ausweichbogen, um dem Tanker nicht zu nahe zu kommen.

Fünf Minuten vor der Ankunft reduziert die Angel die Fahrt auf 25 Knoten. Die Besatzung steigt eilends in die bereit liegenden Schutzanzüge und eilt auf Rettungsstation, die Rettungsrolle vor Ort läuft an. Das ist vielfach geübt. Die Tochterboote werden bemannt. Die Kräne und Speed-RIB´s werden zum Aussetzen bereit gemacht, die MOB´s ausgeschwungen. Um 2,45 erscheint die "Angel 3" an der Unfallstelle, eingewiesen von den Hubschraubern, und bringt augenblicklich ihre sämtlichen Boote zu Wasser. In weniger als 5 Minuten sind die Tochterboote und MOB´s im Wasser und beginnen mit dem Einsatz. Die RIB´s folgen in wenigen Minuten. Die Boote übernehmen die Rettungsinseln und bugsieren sie zur "Angel 3". wo sie über die Rettungstüren nahe der Wasserlinie rasch entladen werden. Das Lazarett ist geöffnet, die Unterkühlten und Schockopfer erhalten sofort ärztliche Hilfe wie alle anderen Verletzten auch. Da die Besatzung der "Angel 3" auf Personenübernahmen bei schwerer See besonders trainiert ist, geht die Übergabe fast unfallfrei vonstatten. Sobald die Tocherboote und MOB´s wieder frei sind, sie haben die abtreibenden Rettungsinseln geholt, fahren sie Suchstreifen, gelenkt von den Hubschraubern, und suchen mit diesen gemeinsam nach abgetriebenen Schwimmern. Die Leitung erfolgt dabei aus der Luft, die Piloten orten mit Wärmebild und Infrarot. Teilweise winschen sie selbst Schwimmer auf, teilweise dirigieren sie die Boote dorthin. Dabei bleibt immer ein Hubschrauber in der Luft als Ortungseinheit. So werden systematisch das Gebiet um die Untergangsstelle und der Driftweg abgesucht. Nach einer Stunde sind etwa 2/3 der Geretteten an Bord der "Angel 3", als die "Mariella" eintrifft. Aufgrund der hohen See kann sie ihre Boote nicht sicher aussetzten und auch die Seitentüren nicht öffnen. Sie müsste warten, bis sich das Wetter etwas beruhigt. Die Rettungstüren der "Angel 3" sind als flutbare Dockräume ausgebildet, als kontrolliert wasserdichte Zone zum Schiff hin, es macht also nichts, wenn sie Wasser nehmen. Die "Mariella" fiert ein Boot an, es schlägt hart gegen die Bordwand und wird schwer beschädigt, sodass es wieder eingesetzt werden muss. Zum Glück wird niemand verletzt. Die Wetterbesserung wird erst am frühen Morgen erwartet dem Wetterbericht nach. Die "Mariella" wird gebeten Lee zu machen, wie auch die kurz darauf eintreffenden Silja-Fähren, und auf Anforderung zu leuchten und Suchstreifen zu fahren. Deren optische Suche mit Ferngläsern und Scheinwerfern bringt aber nicht annähernd den Erfolg wie der massierte Ansatz der Wärmebild- und Infrarottechnik der Hubschrauber, mit der systematisch die einzelnen Schwimmer gesucht und gefunden werden.

Nicht zum Einsatz kommt das modifizierte SARSAT-EPIRB-System, da die Passagiere der Estonia über keine Rettungswesten und Kälteschutzanzüge mit eingenähten Transpondern verfügten, wie sie inzwischen Pflicht für die Berufsschifffahrt sind, und teils in Schlafkleidung von Bord gehen mussten. 

Gegen Morgen, als es dämmert, werden nur noch Leichen gefunden. Auch diese werden geborgen und auf die "Angel 3" gebracht, wo sie im Fahrzeugdeck aufgebahrt werden. Um 10 Uhr werden die drei Fähren mit Dank entlassen, der C.o.S . erklärt den Seenotfall für beendet, da keine weiteren Überlebenden auch bei nochmaliger Suche aus der Luft gefunden werden, auch keine weiteren Leichen. Der Sturm ist etwas abgeflaut wie angekündigt, die See läuft nun um 3 Meter hoch.  Die MOBs und RIBs fangen die leeren Rettungsinseln ein, sie werden an Deck genommen, die Hubschrauber landen endgültig, sie wurden zwischendurch neu betankt, die Tochterboote setzen wieder ein. Mit 18 Knoten läuft die Angel zurück nach Tallin, wird wegen der Vielzahl der Verletzten jedoch zunächst nach Helsinki umgeleitet, wo es die bessere medizinische Versorgung an Land gibt. Gegen 15 Uhr macht die "Angel 3" in Helsinki  fest und gibt die Geretteten und Toten an Land. Um 18 Uhr läuft sie wieder aus, um Mitternacht des 28.9.94 meldet sie Einsatzbereitschaft  in Tallin auf Alarmstation Da das Wetter ruhig geworden ist wird auf 2-Stunden Bereitschaft gegangen und die Besatzung zur Koje befohlen. 

Gerettet wurden 556 Personen, 65 Tote wurden geborgen. 430 Personen werden vermisst. Gerettet wurden zudem der Kapitän der Estonia, die Hälfte der Brückenoffiziere und drei Ingenieure, die später Auskunft gegen werden, was sich an Bord ereignet hat. Dazu kommen der Einsatzbericht, das Funkprotokoll und die Videoaufzeichnungen der Angel 3 für das Seeamt.

 

Epilog:

Am folgenden Morgen um 8 Uhr steigen Behördenvertreter, Bergungsfachleute und Versicherer sowie Reedereivertreter ein, die Angel 3 legt erneut ab und fährt zurück zur Unfallstelle, die sie mittags erreicht. Das an Bord befindliche Submersible, der Tauchroboter, der zur Bergungsinspektion verwendet wird, steigt ab und filmt das Wrack, das mit GPS und Side-Scan-Sonar schnell wiedergefunden wird. Gefunden wird  neben den Loch im Bug ein weiteres Leck im Achterschiff, dessen Art weiterer Nachforschung bedarf. Hinter Fenstern im Schiff treiben weitere Leichen, die derzeit nicht geborgen werden können. Dieses Material wird von den Behörden unter Verschluss genommen. Der Rest ist bekannt. 

 Das der fiktive Einsatz, wie er sich tatsächlich abgespielt haben könnte.

 

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